Ingeborg Wolff

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Von "Judersch Inge" zu Ingeborg Wolff in Neitersen 1931 bis 1938

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“


von Eberhard Blohm/AKdia 2017


Vor mehr als 78 Jahren wurde ein Kind von der Schule in Fladersbach (heute Neitersen) verwiesen, weil ihre Eltern jüdischer Religion waren und weil am 10.11.1938 das Schulverbot für jüdische Schüler verfügt wurde. (Schülerverzeichnis der Volksschule Fladersbach im Kreisarchiv Altenkirchen) Ingeborg Wolff, am Ort nur als „Judersch Inge“ bekannt, kam am 11. November letztmals von der Schule nach Hause in die Rheinstraße zu ihrer Pflegemutter Amalie Stern, wenige Monate vor Vollendung der Schulpflicht in der 8. Klasse der Volksschule. Soweit überhaupt noch Erinnerungen von Mitschülern aus dieser Zeit bestehen: es war die letzte Erinnerung an diese Mitschülerin. Da das Wohnhaus der Familie Stern in der Rheinstraße am 11.11.1938 geplündert und verwüstet wurde, waren Kontakte zu den Bewohnern sicherlich nicht mehr gern gesehen.

Als 2008 vom Autor dieser Zeilen ein Buch zu den „Jüdischen Familien aus den Gemeinden der Verbandsgemeinde Altenkirchen 1933 bis 1945“ erschien, fehlte darin Ingeborg Wolff. Es lag ihm nur in einer Liste des Holocaust Museums New York ein vager Hinweis auf ein Pflegekind bei Familie Stern vor, in der die 1937 noch vor Ort lebenden Juden erfasst waren, aber weder Name noch Geschlecht. Daher waren weitere Recherchen zunächst vergeblich.

Am 8. Oktober 2012 erschien zum 750jährigen Ortsjubiläum die Gemeindechronik der Ortsgemeinde Neitersen. Ingeborg Wolff war auch hier nicht Teil dieser Gemeindegeschichte, außer mit ihrem Namen „Judersch Inge“ und auf einem Klassenbild, ohne besonderen Hinweis.

Als im Januar 2017 eine frühere Bewohnerin von Neitersen im Kreisarchiv in anderer Sache recherchierte, ergaben sich ein Kontakt zum Autor und der Blick auf eine Quelle, die gerade benutzt wurde: das Schülerverzeichnis der Volksschule Fladersbach. Eher zufällig blätterte der Autor darin und fand einen Eintrag: Inge Wolf, geboren 22.7.1925, Vater Artur Wolf, statt der Angabe der Mutter der Hinweis auf die Pflegschaft im Hause Stern. Das Schulverhältnis dauerte vom 20.4.1931 bis 11.11.1938. Ein Hinweis auf eine Einschulung zum 1.4.1931 in Duisburg-Hamborn fand sich ebenfalls. Eine Nachfrage im dortigen Stadtarchiv ergab nichts.

Doch jetzt hatte das Pflegekind einen Namen, einen Vater und den Anfang einer Geschichte - das ist wie der äußere Faden eines Knäuels, das man jetzt abwickeln kann.

Das Einwohnermeldeamt der Verbandsgemeinde Altenkirchen verwahrt die An- und Abmeldebücher des Amtes Weyerbusch aus der Vorkriegszeit, in denen Neiterschen damals geführt wurde. Unter dem 29.12.1938 fand sich ein Eintrag zu Ingeborg Wolf, mit abweichendem Geburtsdatum, aber auch der Angabe des Geburtsortes Koblenz und des Zielortes Kerpen. Abgeholt wurde sie lt. An-und Abmeldebuch Weyerbusch offenbar von einer Sophia Stern geb. Gottschalk (* 1.7.1884 Glesch).

Nachdem der Autor seinen Kontakt zu dem früheren jüdischen Bewohner in Puderbach, Theodore Tobias, einem Kenner der jüdischen Familienbeziehungen im Rheinland, wiederbelebt hatte, erfolgte binnen eines Tages auch die Überlassung eines Familienstammbaums der Familie Wolff in Koblenz.

Aus Wolf wurde nunmehr Wolff.

Das gleichzeitig angesprochene Stadtarchiv Koblenz führt eine Residentenliste jüdischer Einwohner von Koblenz (StAK DB 6), deren Inhalte mit dem Stammbaum zusammen nunmehr einbezogen werden konnten.

Arthur Wolff, Kaufmann (*9.4.1890 Sinzig +6.10.1925 Koblenz) wurde nur 35 Jahre alt. Ingeborg Wolff hat mit ihrer Geburt am 22. Juli als fünftes Kind ihrer Eltern ihren Vater nicht mehr bewusst kennen lernen können . Das könnte die Übergabe in die Pflegefamilie Stern in Neitersen erklären. Die Mutter (Heirat 1918) war mit vier weiteren kleinen Kindern aus den Geburtsjahren 1920, 1921, 1922 und 1924 sicherlich hart gefordert. Nachforschungen in der Lokalzeitung von 1925 helfen vielleicht, die näheren Umstände zu klären.

Die Angabe des Zielorts Kerpen bot die Möglichkeit, auch das dortige Stadtarchiv anzusprechen. Dieses verwahrt ebenfalls die Meldeunterlagen der Stadt. Sie erlaubten ebenso die Korrektur des Nachnamens auf Wolff, lieferten die Namen der Eltern Arthur Wolff und Herta Wolff geb. Winter (*10.9.1893 Mönchengladbach +nach 22.3.1942 Isbica /Majdanek), sowie zahlreiche Einträge über Ortswechsel von Ingeborg Wolff zwischen 1939 und 1942. Daraus ergibt sich, dass Ingeborg Wolff versucht hat, zwischen ihrem 14. und 16. Lebensjahr einen für sie sicheren Aufenthaltsort zu finden.

Die Mitbewohner am Wohnort Kerpen könnten Verwandte ihrer Pflegemutter gewesen sein: Moritz Gottschalk (*7.4.1883 Glesch) und seine Frau Therese geb. Levy (* 23.3.1897 Roggendorf) mit ihren Kindern Helene (*14.2.1924 Kerpen) und Ruth (*26.10.1925 Kerpen) und vermutlich die Schwester des Vaters, die bereits genannte Sophia Stern geb. Gottschalk. Sie alle sind nach Minsk deportiert und am 24.7.1942 in Maly Trostinec ermordet worden. (Friedt, Gerd: Carpena Judaica.- Kerpen 1988, S.105 ,Stadtarchiv Kerpen und Bundesarchiv Gedenkbuch – online)

Über die Absichten in Hamburg über 15 Monate zwischen dem 22. November 1939 und 12. April 1941 zu wohnen, kann nur spekuliert werden. Ohne Wohnanschrift ist es aussichtslos, ihren Aufenthalt und die Mitbewohner zu ermitteln. Die Meldeunterlagen sind in Hamburg im Bombenkrieg vernichtet worden.

Vielleicht hoffte sie dort auf eine Ausreisegelegenheit. Sicherlich hatte sie erfahren, dass ihr Bruder Alfred Wolff (*7.10.1920 Koblenz) und ihre Schwester Hilde Wolff (*16.5.1924 Koblenz) die Ausreise in die USA geschafft hatten. Hilde Wolff, die zeitweise bei ihrem Onkel Albert Wolff (*13.6.1882 Brohl) und der Tante Amalie geb. Levy (*6.4.1882 Anhausen) in Neuwied wohnte, reiste mit ihnen am 15.5.1939 mit der „Manhattan“ von Hamburg nach New York. Vielleicht erklärt das den Aufenthalt in Hamburg. Die Mutter, der Bruder Ernst Wolff (*6.9.1921 Koblenz + nach 22.3.1942 Isbica/Majdanek) und die Schwester Elise (*20.10.1922 Koblenz +Auschwitz nach 2.3.1943) haben das Schicksal der Mutter geteilt. (Stammbaum der Familie Wolff nach Unterlagen von Theodore Tobias 2017 – Daten des Bundesarchivs Berlin - online Gedenkbuch)

Ingeborg Wolff hat sich dann am 28.4.1941 von Hamburg in das Vorbereitungslager der Jugendalijah Schniebinchen, bei Sommerfeld in der Niederlausitz begeben. Die Hachschara, das gezielte Training junger Juden für die Auswanderung nach Israel, konnte lebensrettend sein. Überall im Reich gab es Auswandererlehrgüter wie in Schniebinchen. Diese Einrichtungen waren geduldet. Doch nach Kriegsbeginn entfiel der Zweck der Duldung durch die nationalsozialistischen Behörden, die Auswanderung nach Palästina. Sie begannen mit der Auflösung einzelner Stellen. Die verbliebenen Pioniere gingen in die größeren und großen Güter und Schulen. Die letzten zionistischen Gruppen wurden verboten. Ende 1939 gab es noch 28 land-und forstwirtschaftliche und Hachscharah-Stellen mit ca. 1800 Menschen. Hachscharah wurde zunehmend zur illegalen Auswanderung aus Deutschland und illegalen Einwanderung in Palästina. Ab Juni 1941 wurden auch die größeren Hachscharah-Stellen „liquidiert“ oder in Zwangsarbeitslager umgewandelt. (www.wordpress.com : Juden in Deutschland – Hachscharah Oktober 2008)

Für Ingeborg Wolff bedeutete das das Ende dieser Hoffnung. Sie war ab 19.7.1941 wieder in Kerpen gemeldet, ist am 12.6.1942 in Bergheim/Erft angemeldet und wurde am 20.7.1942 mit dem Zug Da 219 von Köln nach Minsk in Weißrussland deportiert. (Gottwaldt, Alfred / Schulle, Diana: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945.- Wiesbaden 2005, S.243) Alle 1164 Deportierten in diesem Zug wurden am 24.6.1942 unmittelbar nach der Ankunft in Maly Trostinec erschossen…zwei Tage nach ihrem 17. Geburtstag. Im Geburtsjahr Halbwaise, zu Schulbeginn in einer Pflegefamilie, vor Ende der 8-jährigen Schulzeit zwangsweise aus der Schule entfernt, zweieinhalb Jahre auf der Suche nach einer Zukunft, die ihr niemand geboten hat, von der Einsatzgruppe von SS-Unterscharführer Arlt erschossen: das 59. Opfer der Synagogengemeinde Altenkirchen.


Wer kann da sagen, es müsse Schluss sein mit dem Versuch, diese Schicksale bekannt zu machen? Ingeborg Wolff können wir in Neitersen (und Altenkirchen) nur noch ihren Namen geben.





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