Blohm - Weinberg

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Margarete Weinberg – Schülerin der Höheren Stadtschule Altenkirchen

von Eberhard Blohm

Erstveröffentlicht im Jahrbuch des Westerwald-Gymnasiums Altenkirchen 2007/2008; Copyright Eberhard Blohm/AKdia

Das Westerwald-Gymnasium Altenkirchen hat eine Geschichte seit dem 18. Jahrhundert. So kann es auch nicht wundern, dass es auch eine Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus gibt, die aber bisher noch nicht Gegenstand der regionalgeschichtlichen Forschung war. Das kann auch an der Tatsache liegen, dass das alte Gebäude der Höheren Stadtschule aus der Zeit der Weimarer Republik in der heutigen Rathausstraße die Bombenangriffe im März 1945 nicht überstanden hat. Daher gibt es keine örtliche Überlieferung mehr in Akten. Da es eine jüdische Bevölkerung von etwa 140 Personen in der heutigen Verbandsgemeinde Altenkirchen gab, lag es nahe anzunehmen, dass unter den Schülern unserer Schule, die damals den Namen Oberschule für Jungen trug, auch jüdische Schüler waren. Bei der Suche nach Spuren von ihnen konnte ich aber nur im Fall von Margarete Weinberg mehr als die biographischen Daten finden.

Die hier vorgestellte kleine biographische Skizze Margarete Weinbergs betrifft aber keinen typischen Fall. Denn jüdische Schüler mit zwei jüdischen Elternteilen aus Altenkirchen haben die Zeit nur überlebt, wenn sie vor Kriegsbeginn emigrieren konnten. Alle übrigen wurden ermordet, es sei denn, sie waren als „Mischlinge“ davor bewahrt. Deren Behandlung kurz vor Kriegsende zeigte aber, dass in der Zukunft der Rassenwahn wohl auch diesen Teil der Bevölkerung ausgerottet hätte. Nur das Kriegsende hat das verhindert.

Nur noch wenige Altenkirchener, vor allem aus dem Jahrgang 1928, werden sich an Margarete Weinberg erinnern können, die vom Schuljahr 1935/1936 an die Grundschule, danach ab dem Schuljahr 1939/1940 die Höhere Stadtschule in Altenkirchen besuchte, die sie damals - von den „Nürnberger Gesetzen“ als „Mischling 1. Klasse“ und als nicht „deutschblütig“ bzw. nicht „arisch“ bezeichnet - 1943 nach Erfüllung der Schulpflicht verlassen musste, obwohl sie die Klassenbeste gewesen sein soll.

Diese rassistische Einschätzung ging auf die Tatsache zurück, dass ihr protestantischer Vater Albert Weinberg (1) vom jüdischen Glauben übergetreten war, was die nationalsozialistischen Ideologen in ihrem Blutsmythos nicht daran hinderte, die Glaubenszugehörigkeit zum „Rasse“merkmal zu erklären, das man nicht aufgeben konnte wie die Religion.

Eine erste Verbindung zu Altenkirchen ergibt sich aus der Tatsache, dass die Eltern am 23.9.1924 in Altenkirchen geheiratet haben (2). Die Wahl des Heiratsortes geht sicher auf die Tatsache zurück, dass der Stiefvater (3) der Braut (4) Ludwig Blank (5) war, Amtsbürgermeister von Altenkirchen 1920 bis 1945. Dieser tauchte auch als Trauzeuge auf, wie auch der evangelische Pfarrer von Altenkirchen Theodor Maas (6).

Margarete Weinberg wurde am 24.7.1928 in Erfurt (7) als zweites von drei Kindern der Familie geboren (8). Der Vater war zu der Zeit Medizinalrat in Schleusingen im Kreis Hildburghausen im südlichen Thüringen. Er hatte als Amtsarzt schon verschiedene Stellen bekleidet (9) und wechselte als Kreisarzt um 1929 in die Niederlausitz, wo die Familie in Luckau ein Haus erwarb. Dort war er wegen seiner alten Religion in den frühen dreißiger Jahren Anfeindungen ausgesetzt, die im Herbst 1932 in seiner frühzeitigen Pensionierung gipfelten (10).

Im Januar 1934 flüchtete er zunächst allein nach Prag, um die Chancen für eine Emigration zu prüfen. Die Familie, nunmehr drei kleine Kinder mit der Mutter, blieb zurück. Da die Mittel knapp wurden, hat der Großvater in Altenkirchen angeboten, die nunmehr 6-jährige Margarete bei sich aufzunehmen (11).

In der Stadt Altenkirchen scheint die Tatsache, dass der Amtsbürgermeister ein „nichtarisches“ Enkelkind bei sich wohnen ließ, allgemein bekannt gewesen. Zeitzeugen (12) berichten von den Bemühungen des Großvaters, für sein Enkelkind Spielkameraden zu haben, diese ins Haus zu bitten oder in fremden Häusern spielen lassen zu können. Die Eltern dieser Kinder hätten das mal mehr, mal weniger unterstützt, geduldet oder unterbunden.

Mit der Einschulung in die erste Klasse der Volksschule im Frühjahr 1935 wurde das Kind den sich verstärkenden Ausgrenzungsmaßnahmen noch eher ausgesetzt. Mit der Veröffentlichung der Nürnberger Rassegesetze in der Altenkirchener Zeitung konnte jeder Leser, der die frühere jüdische Religionszugehörigkeit des Vaters kannte, die Einstufung als „Mischling 1. Grades“ selbst nachlesen. Margarete Weinberg sei dann in der Folge auch mit der Bezeichnung „Bastard“ belegt worden (13).

Der Tod der Großmutter im April 1936 hat zunächst sogar bei Ludwig Blank Überlegungen zum Umzug in die Lausitz ausgelöst, die sich aber nicht realisierten. Seine Enkelin blieb dann bei ihm, statt zur übrigen Familie zurückzukehren, die inzwischen in Berlin wohnte. Der Vater hatte Prag inzwischen Richtung Palästina verlassen und war englischer Staatsbürger geworden. Als dies in Deutschland bekannt wurde, wurde das Vermögen beschlagnahmt und die Miete aus dem Haus in der Lausitz floss auch nicht mehr. Der Großvater in Altenkirchen übernahm den Unterhalt für die in ärmlichen Bedingungen wohnende Familie in Berlin. (14)

Von der Volksschule wechselte Margarete auf die Höhere Stadtschule. Hier durfte sie jedoch nur bis zum Ende der Schulpflicht (mit dem 8.Schuljahr) auf der weiterführenden Schule bleiben, weil die Regeln für den Schulbesuch seit dem 2.7.1937 als Konsequenz aus dem Reichsbürgergesetz (= Nürnberger Gesetze) für „Mischlinge“ in dieser Weise geändert worden waren. Mit dem Ende des Schuljahres 1942/1943 war für Margarete Weinberg die Schulzeit in Altenkirchen somit beendet.

Kurz vorher war sie nach dem Konfirmationsunterricht bei Pfarrer Theodor Maas kurz nach dessen plötzlichem Tod noch in Altenkirchen konfirmiert worden (15).

Für weibliche Schulabgänger war inzwischen das „Pflichtjahr für Mädchen“ die Regel geworden, das in einem kinderreichen Haushalt abzuleisten war. Die Vermittlung erfolgte über das Arbeitsamt. Margarete Weinberg kam in die Pfarrersfamilie Höhndorf mit sechs Kindern nach Spangenberg Kreis Melsungen in Oberhessen. Pfarrer Konrad Höhndorf war wie Pfarrer Theodor Maas in Altenkirchen der Bekennenden Kirche zuzurechnen. (16)

Die jüngste Tochter der Familie Höhndorf konnte den Aufenthalt in Spangenberg auf den 15.5.1943 bis 1.5.1944 belegen. Großvater Blank brachte sie persönlich dorthin. Im Oktober 1943 erhielt sie Besuch von ihrer Mutter aus Berlin, im Mai holte sie die Haushälterin des Großvaters wieder zurück nach Altenkirchen (17). Ab 8.8.1944 war sie dann bis Kriegsende als Sprechstundenhilfe bei Dr. Kornrumpf (18) in Henningsdorf (Kreis Osthavelland) (19) in der Nähe von Berlin.

Margarete Weinberg hat nach dem Krieg in einem Sonderkursus in Berlin-Charlottenburg das Abitur nachmachen können. Danach hat sie eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin am Lettehaus in Berlin abgeschlossen, ehe sie an der Humboldt-Universität Medizin studierte und mit Examen und Promotion beendete. Sie hat den Arzt Dr. Arno Biese (14.3.1929 – 8.11.1979) geheiratet; 1956 ist ihr Sohn geboren. Beide haben an der Charité bis 1958 gearbeitet, während sie in Berlin-Pankow im Ost-Sektor wohnten. Sie wechselten dann nach Düsseldorf, wo Dr. Margarete Biese eine Arztpraxis betrieb.

In dieser Zeit hatte sie Kontakt nach Altenkirchen, zunächst zu den Großeltern, später zu einer Mitschülerin. Es gibt Belege für Besuche in Altenkirchen. An den Klassentreffen mochte sie nicht teilnehmen, weil sie wohl an einige Mitschüler nicht die besten Erinnerungen hatte (20).

Schwer erkrankt hat sie ihre Arztpraxis in Düsseldorf im April 1992 (21) aufgegeben und ist zu ihrem Sohn nach Südfrankreich gezogen, wo sie am 13.12.1993 in Salon-de-Provence (22) mit 65 Jahren gestorben ist.

Copyright Eberhard Blohm/AKdia


Anmerkungen

(1) Medizinalrat Dr. Albert Weinberg *25.12.1888 Berlin + 26.10.1952 Berlin

(2) Heiratsurkunde 41/1924 Standesamt Altenkirchen

(3) Ludwig Blank *3.11.1876 Dudweiler/Saar + 30.11.1965 Altenkirchen; seine Frau Johanna Blank geb. Loew *1.8.1877 St. Johann/Saar + 12.4.1936 Altenkirchen war in erster Ehe mit dem Tierarzt Schäfer verheiratet und heiratete nach dessen frühem Tod in Dudweiler1909 zum zweiten Mal.

(4) Auguste Margarete Luise Weinberg geb. Schäfer *23.8.1899 in Dudweiler/Saar + 18.7.1881 Bielefeld-Senne

(5) Ludwig Blank war Bürgermeister in Ottweiler/Saar, wurde von den Franzosen ausgewiesen und wurde am 1.4.1920 Amtsbürgermeister von Altenkirchen bis zur späten Pensionierung mit 69 Jahren am 30.11.1945

(6) Theodor Maas *29.8.1882 Breslau +3.3.1943 Altenkirchen

(7) Standesamt Erfurt Geburtsregister 1928

(8) Der Bruder Horst Weinberg (*1925) und die Schwester Sigrid Schorsch geb. Weinberg (*1930) haben mit vielen Erinnerungen diese Skizze bereichert. Ihnen sei hier besonders gedankt.

(9) Auskunft von Frau Kerstin Möhring, Schleusingerneundorf

(10) Nach Angaben seines Sohnes Horst Weinberg / Teneriffa

(11) Die Meldekartei verzeichnet diesen Zuzug unter Hinweis auf den Status „nichtarisch“

(12) Angaben von Frau John, Almersbach und Frau Tetteh, Altenkirchen

(13) Nach Aussagen von Mitschülern; der Zeitpunkt – und damit welche Schule oder Klasse - ließen sich nicht mehr feststellen; vgl. auch Anmerkung 13

(14) Angaben der Geschwister Weinberg

(15) Konfirmationsverzeichnis 1943 in der Evangelischen Kirchengemeinde Altenkirchen

(16) Angaben von Frau Gerta Koschel geb. Höhndorf, Oberursel, vom 2.7.2006

(17) Gästebuch der Familie Höhndorf, Spangenberg, mit freundlicher Unterstützung überlassen von Frau Koschel

(18) Angaben zu dieser Zeit durch den Bruder Horst Weinberg am 6.7.2006

(19) Meldekartei des Amtes Altenkirchen

(20) Angabe von Frau Tetteh, Altenkirchen

(21) Kartei der Kassenärztlichen Vereinigung Düsseldorf

(22) Angabe vom Sohn Ronald Biese, St.Estèphe / Frankreich




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