Altenkirchener Abiturienten im Ersten Weltkrieg

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Altenkirchener Abiturienten im Ersten Weltkrieg

von Hanns Göbel, Juni 2014/AKdia

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es für junge Menschen aus dem Landkreis Altenkirchen nicht einfach, das Abitur zu erreichen. Zwar gab es sowohl in Altenkirchen als auch in Kirchen eine Rektoratsschule, diese bereiteten den Besuch einer gymnasialen Oberstufe jedoch nur vor. Das galt zunächst auch für die 1901 gegründete Höhere Knabenschule zu Betzdorf an der Sieg. Spätestens nach dem Abschluss der Untersekunda – der heutigen Mittleren Reife – musste der heimatliche Landkreis also verlassen werden, um in die Oberstufe eines Gymnasiums einzutreten.(1) Eine Verbesserung trat erst 1912 ein, als die noch junge Schule in Betzdorf als Realgymnasium in Entwicklung begann, eine eigene Oberstufe aufzubauen. So waren in der Obersekunda – der ersten Oberstufenklasse – auch zwei Schüler aus Altenkirchen: Heinrich Beckmann, der Sohn des Kreisschulinspektors Dr. August Beckmann sowie Wilhelm Röhrig, der Sohn des Kaufmanns Wilhelm Röhrig. Beide hatten in Betzdorf schon die Untersekunda gemeinsam besucht.(2) Ihre neue Klasse wurde von Direktor Fritz Stenger geleitet, der sie in den Fächern Deutsch und Geschichte unterrichtete.(3)

Die zuletzt 21 Schüler der ersten Betzdorfer Obersekunda bereiteten sich darauf vor, im Frühjahr 1915 ihre Reifeprüfungen zu bestehen. Ihr Leben war auch außerhalb des Unterrichts durch die Schule geprägt. Einerseits reglementierte die strenge Schulordnung sogar das Verhalten in der Freizeit, andererseits war das schulische Angebot an kulturellen, sportlichen und geselligen Aktivitäten für damalige Jugendliche sehr attraktiv. So gab es zum Beispiel regelmäßige Theateraufführungen und Konzerte, einen Wandervogel und einen eigenen Ruderverein. Aber auch die Siege über den „Erzfeind“ Frankreich in den Jahren 1813 und 1870 wurden regelmäßig gefeiert – der patriotischen Gesinnung jener Kriege galt es nachzueifern.(4)

Der Kriegsbeginn am 1. August 1914 war für das junge Realgymnasium ein tiefer Einschnitt. Noch am selben Tag erging vom Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten in Berlin die Verordnung über die „Vorzeitige Ablegung der Reifeprüfung an den höheren Lehranstalten für die männliche Jugend infolge der Mobilmachung“. Die Direktoren der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen wurden angewiesen, „den Schülern der Prima […], welche infolge der angeordneten Mobilmachung der Armee in diese eintreten wollen oder müssen, die Möglichkeit zu gewähren, vorher noch die Reifeprüfung abzulegen“.(5) Auf die sonst vorgeschriebenen Formalitäten wie die Anwesenheit des Provinzialschulrates wurde ausdrücklich verzichtet, ab jetzt sollten die Durchführung der Abschlussprüfungen und die Aushändigung der Reifezeugnisse vor allem möglichst rasch erfolgen.

Von den Schülern der Betzdorfer Oberprima, die nur noch wenige Monate vor ihrem regulären Abschluss standen, meldeten sich die meisten schon in den ersten Kriegstagen freiwillig. Heinrich Lake, der die Klasse bisher in Französisch und Englisch unterrichtet hatte, war schon einige Wochen zuvor „zu einer militärischen Uebung eingezogen worden“.(6) Auch Direktor Stenger verließ am 2. August die Schule, um als Kompanieführer mit einem Landsturmbataillon nach Russland zu gehen.(7) Das verbliebene Kollegium traf sich am 11. August zu einer Konferenz und beschloss, die vorgezogene Reifeprüfung für „alle Schüler der Oberprima, die ins Heer eintreten“, bereits in der folgenden Woche durchzuführen. Die schriftlichen Arbeiten sollten am Montag und am Dienstag stattfinden, die mündlichen Prüfungen am Mittwoch. Für die Arbeiten wurde folgende Reihenfolge festgelegt: zuerst die sprachlichen Hauptfächer Deutsch, Latein und Französisch, anschließend Mathematik und Physik. Die Eltern der Schüler wurden „sogleich von dem Beschluss benachrichtigt“.(8) Die Vorbereitungszeit betrug also kaum eine Woche. Zum Wiederholen von Vokabeln und Formeln hatten viele Prüflinge jetzt ohnehin kaum Gelegenheit, gehörten sie doch bereits einem der umliegenden Regimenter an und begannen gerade ihre militärische Grundausbildung. Beurlaubt wurden sie nur für die Tage der Prüfung. Von den Lehrern wurde erwartet, dass sie die besonderen Umstände in der Notreifeprüfung berücksichtigten.

Am 17. August, dem ersten Prüfungstag, mussten die Prüflinge gleich mehrere Arbeiten schreiben. Im Fach Deutsch ließ Dr. Wilhelm Arnold, der auch die Prüfung im Fach Französisch übernahm, einen Aufsatz schreiben. Das Thema: „Meine Erlebnisse seit dem Beginn des Krieges.“(9) Oberlehrer Franz Wagner hatte für die Prüfung in Latein gleichfalls einen Text gefunden, den er der historischen Dimension des Prüfungszeitpunkts für angemessen hielt. Zu übersetzen waren jene Kapitel aus Buch XXI der Römischen Geschichte von Titus Livius, in denen der Beginn des Zweiten Punischen Krieges beschrieben wird. Für die Prüfung in Französisch hatte Dr. Arnold ein Diktat ausgewählt. Der Text kommentiert Ereignisse aus dem Deutsch-Französischen Krieg, die den Schülern vermutlich vertraut waren: Ein angebliches Massaker der deutschen „Barbaren“ an den Einwohnern der Stadt Bazeilles wird als französische Greuelpropaganda entlarvt. Die Franzosen dagegen – so das Diktat – setzten ihr großartiges Schloss von Saint-Cloud selbst in Brand, was die Deutschen durch Lösch versuche – leider vergeblich – noch zu verhindern suchten. Der Prüfer in den Fächern Physik und Mathematik war Dr. Georg Wolff, der erst seit Beginn des Schuljahres in Betzdorf unterrichtete. Das Thema der physikalischen Prüfung lautete: „Die Strommeßapparate, die auf der chemischen Wirkung der Elektrizität beruhen.“ Am nächsten Tag musste nur noch die Arbeit in Mathematik geschrieben werden. Dr. Wolff gelang es, sogar in diesem Fach patriotische Gesinnung zu zeigen. In der ersten Aufgabe galt es, mit Hilfe der geographischen Koordinaten folgendes zu berechnen: „Wie weit ist Betzdorf von Paris, dem Zielpunkt unseres Krieges im Westen, entfernt?“

Die bereits erwähnten Aufsätze im Fach Deutsch vermitteln einen unmittelbaren Eindruck vom sogenannten Augusterlebnis. Geradezu verzweifelt erzählen die Abiturienten von ihrem Bemühen, rechtzeitig Soldat zu werden an die Front zu kommen – bevor „unser alter Erbfeind, der Franzose geschlagen wird“.(10) Offensichtlich rechneten die Schüler mit einem schnellen Sieg und befürchteten, daran keinen Anteil zu haben.

In seinem Aufsatz erzählt Wilhelm Röhrig unter anderem von seiner Heimreise nach Altenkirchen: „Als ich die Nachricht von der Kriegserklärung hörte, packte ich so schnell wie möglich meine Koffer, um mit dem ersten Zug nach Hause zu fahren. Die Züge waren überfüllt von Reisenden, die noch in ihre Heimat wollten, um dort in diesen ernsten Zeiten zu leben. Infolge der stundenlangen Verzögerungen, die die Züge hatten, kam ich erst nachts um 2 Uhr nach Hause. Am folgenden Tage wurde sofort der Landsturm einberufen. Ergreifend waren die Abschiedsszenen an dem Bahnhofe meines Heimatstädtchens. Mancher Vater, der vorher im Kreise seiner Familie ruhige Tage erlebt hatte, mußte Abschied nehmen von Weib und Kind, um einem ungewissen Schicksal entgegenzueilen. Die ungeheure Begeisterung machte ihm jedoch den Abschied leichter. Unter den Klängen des Liedes: „Lieb' Vaterland[,] magst ruhig sein!“ fuhren die mutigen Krieger in Feindesland.

Am folgende[n] Dienstag fuhr auch ich nach Koblenz, um mich freiwillig zu melden. An allen Stationen wurden wir von begeisterten Menschenmengen mit „Hurrarufen“ begrüßt. In Koblenz selbst war der Andrang so groß, daß man kaum noch einen Ausweg finden konnte. Ich fuhr mit 2 Freunden, die mich begleitet hatten von einer Kaserne zur anderen. Nirgends konnten wir jedoch ankommen, da wir uns zu spät gemeldet hatten. Zu meinem größten Bedauern mußte ich infolgedessen unverrichteter Sache wieder nach Hause zurück fahren und abwarten[,] bis der Jahrgang 1895 ausgemustert wurde. Die Musterung fand nach einer Woche statt.

Schon um 7 Uhr morgends strömten von allen Dörfern die Wehrpflichtigen zusammen, die untersucht werden sollten, für welche Truppengattungen sie tauglich wären. Hocherfreut war ich als mich der Major für felddienstfähig bei der Infanterie erklärte. Höchstwahrscheinlich muß ich am kommenden Freitag nach Trier, wo ich 6 Wochen ausg[eb]ildet werde; und dort dann auch an dem großen Weltkrieg teilnehmen.

Wohl wird der Krieg viele blutige Opfer kosten; aber wenn wir bedenken, daß unsere Sache gerecht ist[,] und daß uns der Krieg nur von Feinden aufgedrängt worden ist, dann können wir getrost auf eine siegreiche Zukunft hoffen.“(11) Heinrich Beckmann war zum Zeitpunkt der Prüfungen bereits Soldat, und zwar im 5. Rheinischen Infanterie-Regiment Nr. 65 in Köln. Er war für die Prüfungen beurlaubt worden und hoffte, danach endlich an die Front zu kommen. Anfangs war auch Beckmanns Suche ebenso mühsam wie erfolglos gewesen: „Aber leider wurde mir überall, wo ich hinkam, der Bescheid gegeben, daß keine Freiwilligen mehr angenommen werden könnten. Schweren Herzens zog ich dann von der einen Kaserne zur anderen, immer mit der guten Hoffnung, hier jetzt angenommen zu werden. […] Am nächsten Morgen in aller Frühe, die Sonne war noch nicht aufgegangen, da verließ ich Altenkirchen und wollte mein Glück mal in Köln probieren. Hier war mir Fortuna endlich hold. Hier wurden noch Freiwillige angenommen. […] Nachmittags um 2 Uhr begann endlich die Untersuchung. Zu meiner größten Freude – aber es war ja selbstverständlich – wurde ich für tauglich erklärt und angeommen. Am nächsten Morgen bekamen wir unseren Drillichanzug und die schweren Kommißstiefel, und der Betrieb setzte sich langsam in Bewegung. In glühender Hitze mußten wir nun jeden Tag draußen auf der Heide Felddienstübungen verrichten. Aber bis jetzt habe ich die Lust, Soldat zu sein, noch nicht verloren und werde es auch nie. Es dauert mir nur zu lange, ehe wir mal […] aufs Feld kommen und dort das, was wir in der Kaserne gelernt haben, auch praktisch zeigen zu können und den Franzosen den gemeinen Schuften – [...]“.(12)

Beckmann kam – wie alle 16 Absolventen der Notreifeprüfung von 1914 – „aufs Feld“, also an die Front. Offensichtlich bewährte er sich hier, denn obwohl er eigentlich noch nicht einmal volljährig war, stieg er bald zum Leutnant auf. Am 5. Mai 1915, seinem 21. Geburtstag, befand er sich an der Westfront, vermutlich in der Nähe Verduns – es war der letzte Tag seines jungen Lebens. Heinrich Beckmann ruht auf der Kriegsgräberstätte Troyon (Block 13, Grab 231).(13) Wilhelm Röhrig überlebte den Weltkrieg und wohnte später in Frankfurt-Niederrad.(14) Mit Erich Menge, Walter Röhlich, Adolf Schneider und Karl Basse starben aber noch vier weitere Klassenkameraden den sogenannten Heldentod fürs Vaterland. Insgesamt 521 ehemalige Schüler des Realgymnasiums Betzdorf-Kirchen traten bis 1918 ins Heer ein, davon haben 500 „vor dem Feind gestanden“. Von diesen sind mindestens 136 gefallen.(15)

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Anmerkungen

1)In den benachbarten Landkreisen gab es schon im späten 19. Jahrhundert Gymnasien (seit 1871 in Montabaur, seit 1874 in Dillenburg, seit 1877 als Gymnasium mit Realprogymnasium in Neuwied, seit 1882 als Realgymnasium in Siegen und seit 1886 in Siegburg).

2)Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, Schularchiv, Schüler-Karteikarten für Heinrich Beckmann und Wilhelm Röhrig.

3) Jahresbericht über das Realgymnasium i. E. zu Betzdorf-Kirchen an der Sieg für das Schuljahr 1912-13, Betzdorf 1913, S. 10.

4) Vgl. Hanns Göbel: 100 Jahre Abitur in Betzdorf, in: Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen (Hg.): Freiherrvom- Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen. Chronik 2012-2013, Betzdorf 2014, S. 69-72, hier: S. 70.

5) Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen. Hrsg. in dem Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten. Jahrgang 1914, Berlin 1914, S. 496 f.

6) Jahresbericht über das Realgymnasium i. E. zu Betzdorf-Kirchen an der Sieg für das Schuljahr 1912-13, Betzdorf 1913, S. 10; Festschrift zur Gedenkfeier des 25jährigen Bestehens am 23. und 24. Juli 1926. Realgymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf, Betzdorf 1926, S. 6.

7) Festschrift zur Gedenkfeier des 25jährigen Bestehens am 23. und 24. Juli 1926. Realgymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf, Betzdorf 1926, S. 6.

8) Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, Schularchiv, Protokollbuch. 1. Mai 05-5. Okt 1918, S. 192.

9) Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, Schularchiv, Akten der Reifeprüfung 1914.

10) Ebd., Aufsatz von Karl Basse (17.8.1914).

11) Ebd., Aufsatz von Wilhelm Röhrig (17.8.1914). Das Original enthält mehrere Veränderungen und Korrekturen, die zur besseren Lesbarkeit weggelassen wurden.

12) Ebd., Aufsatz von Heinrich Beckmann (17.8.1914).

13) Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, Schularchiv, beschriftete Fotografie Heinrich Beckmanns (siehe Abb.);

http://www.denkmalprojekt.org/2008/troyon_kgs_wk1_fr/troyon_kgs_wk1_fr_b.htm (Stand: 29.4.2014).

14) Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, Schularchiv, Schüler-Karteikarte für Wilhelm Röhrig (rücks. Notiz, 1951); Gymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf (Sieg). 1901-1951, o. O., o. J. (Betzdorf 1951), S. 57.

15)Festschrift zur Gedenkfeier des 25jährigen Bestehens am 23. und 24. Juli 1926. Realgymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf, Betzdorf 1926, S. 6.