Vertrieben aus Altenkirchen

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Vertrieben aus Altenkirchen – Briefe der Familie Leopold Stern 1936 bis 1938 nach Palästina


Von Eberhard Blohm und Antonius Kunz


Nach der Veröffentlichung von Eberhard Blohm: Jüdische Familien aus den Gemeinden der Verbandsgemeinde Altenkirchen (Westerwald), erschienen 2008 in Wölmersen, meldeten sich 2009 Nachfahren der Familie Leopold Stern aus Israel beim Autor, die erstmals die Orte, an denen ihre Großeltern in Deutschland gelebt hatten, so auch Altenkirchen, kennen lernen wollten. Bei dem Besuch wurde das Überlassen von Kopien der in der Familie verwahrten Teile einer Korrespondenz vereinbart. Sie bilden die Grundlage dieser kleinen Darstellung.

Die erhaltenen Briefe bestehen aus achtzehn Blättern, d.h. einer Postkarte, einem Zeitungsausschnitt, einem amtlichen Schreiben, zwei Geschäftsbriefen und dreizehn Privatbriefen, darunter elf an die nach Palästina in ein Kibbuz emigrierte Tochter Ilse Stern und zwei Briefe an nicht genannte Empfänger. Sie wurden zwischen Oktober 1936 und April 1938 geschrieben. Die Briefe sind teils handschriftlich, teils mit Schreibmaschine verfasst vom Vater Leopold Stern, handschriftlich von der Mutter Rosa Stern und der Schwester Anneliese Stern. Die Blätter sind z. T. auf Vorder- und Rückseiten beschrieben. Die Textanschlüsse sind nicht immer klar erkennbar, weil es Übertragungsverluste gab. Die Lesbarkeit ist wegen des Erhaltungszustands einiger Blätter und durch Randmängel etwas eingeschränkt. Die Kernaussagen sind aber klar.

Die Familie Stern wohnte 1925 in der Koblenzer Straße 10 c und hatte ein Geschäft für Manufakturwaren zunächst in der Wilhelmstraße 36, dann in der Bahnhofstraße 4, wo eine Taschentuchherstellung erfolgte. Sie bestand aus dem Vater Leopold Stern (*29.3.1884 in Balduinstein, Amt Diez/Lahn), der Mutter Rosa geborene Aron (*29.5.1890 in Hausen bei Limburg), der Tochter Thekla Ilse (*1.10.1913 in Balduinstein) und der Tochter Anneliese (*23.3.1923 Altenkirchen).

Thekla Ilse Stern hat auf die nach dem 30. Januar 1933 in schneller Folge einsetzenden Maßnahmen wirtschaftlichen Drucks gegen die jüdische Bevölkerung mit dem Ziel ihrer Vertreibung als Erste in der Familie reagiert. Ihr Emigrationsdatum ist nicht bekannt. Sie ist nicht erst 1938, wie bei Blohm (2008, S.189) vermerkt, sondern schon vor Herbst 1936 nach Palästina gegangen. Da sie bereits im Oktober 1934 volljährig wurde und der erste erhaltene Brief an sie vom Oktober 1936 datiert, ist das Emigrationsdatum dazwischen anzunehmen. Sie hat sich im Kibbuz verlobt (Brief 3.7.1937), am 1.4.1938 geheiratet (Brief vom 8.4.1938) und ist 2003 in Israel gestorben.

Sie muss ihren Eltern über die Situation in Palästina berichtet haben. Denn die Mutter schreibt ihr am 25.10.1936, „und nach Erez (gemeint ist das spätere Israel) wird meiner Ansicht nach für uns keine Aussicht sein, um eine Existenz zu gründen, liebe Ilse, die uns ernährt.“ Die Überlegungen der Eltern konzentrieren sich daher auf eine Emigration in die USA, „denn auf die Dauer hierbleiben hat keinen Zweck.“ (25.10.1936) „Die Leute (gemeint sind die jüdischen Familien) sind sich alle sehr einig ...und immer ist die einzige Unterhaltung, wo man hingeht oder hingehen könnte.“ (25.10.1936)

Die vorliegenden Briefe berichten über den Fortgang der Bemühungen um eine Auswanderung. So wird am 16.2.1937 die Bürgschaft durch Verwandte für den Aufenthalt in den USA als gesichert berichtet (Brief 25.2.1937). Rückfragen aus den USA verzögern den Antrag auf Einreise. Die Papiere werden von der Agentur der United States Lines am 15.2.1938 angekündigt. Die Abholung der Visa sollte schließlich am 4. Mai 1938 in Stuttgart erfolgen. Bei der Ankunft dort erlitt Leopold Stern auf dem Bahnsteig einen tödlichen Herzanfall und wurde am 6.5.1938 in Stuttgart bestattet. (Anzeige des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten)

Seine Frau Rosa Stern und die Tochter Anneliese emigrierten wie vorgesehen in die USA. Frau Stern starb im Januar 1969 in New York, ihre Tochter und spätere Anneliese Newman lebte 2009 noch in New York.

Es fällt auf, dass die Briefe so gut wie keine Nachrichten aus Altenkirchen enthalten, die über die Familienereignisse hinausgehen. Es muss vermutet werden, dass die Absender Briefkontrollen durch die Gestapo annahmen oder von ihnen wussten. Weder gibt es Hinweise auf örtliche Begebenheiten, noch Kommentare zu Situation der jüdischen Bevölkerung. Der Archivdirektor des Jüdischen Museums in Frankfurt, Michael Lenarz, bestätigt aus seiner Kenntnis verschiedener Briefwechsel diese Tendenz zur Annahme von Briefzensur (telefonische Auskunft 16.7.2015). Der Leiter des Landesarchivs Speyer, Dr. Rummel, bestätigt, dass die Gestapo in Fällen bekannt gewordener Auswanderungsabsicht Briefkontrollen vornahm (E-Mail Dr. Rummel 15.7.2015).

Lediglich der Verkauf des Wohnhauses in der Koblenzer Straße an den Dentisten Heinrich Gerlach, Bahnhofstraße (Nachbar des Produktionsgebäudes der Manufaktur), wird detailliert am 16.9.1937 berichtet. Es wechselte für 24000 Reichsmark den Besitzer. Familie Stern konnte lt. Vertrag bis zum 1.9.1939 im Hause wohnen bleiben, wenn sie die Lasten trug. Die Mieteinnahme von 155 RM verblieb ihr. Herr Gerlach übernahm die Hypothek und berechnete 4% Zinsen, während die Bankzinsen 7 % betragen hätten. Leopold Stern bezeichnet die finanzielle Lage so: „Wir können bescheiden unser Leben fristen“.

Von der Manufaktur ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Rede. Auch der Hausverkauf in der Bahnhofstraße an den Konditor Fritz Schneider, den die Altenkirchner Zeitung am 6.12.1937 berichtet, findet in den Briefen keine Erwähnung. Die Postkarte der Familie Grünebaum, die sich am 7. Februar 1938 bereits aus Hamburg von den Sterns verabschiedet, ist ein seltenes Zeichen einer zu Papier gebrachten Gefühlsregung: „…wollen wir nicht den Boden der alten Heimat verlassen, ohne…“

Die Mehrheitsbevölkerung von 96 % Nichtjuden hat der jüdischen Bevölkerung Altenkirchen nicht als HEIMAT gelassen!